Borderline

"Denke niemals, daß du anderen anders erscheinen könntest, als du bist, wenn du nicht anders wärest oder hättest sein können, als sie dich gesehen hätten, wenn du anders gewesen wärest, als du anderen erscheinst." [Lewis Carroll, Alice im Wunderland]

 

Therapeutentagebuch der Patierntin Alice I. Wunderland [Auszug]

Ich berichte über meine Patientin Alice I. Wunderland, geb. 23. 09.1998, stationär seit 23.09.2016, auf der Station RG. Die Patientin, bei der nomen scheinbar tatsächlich omen ist, zeigt sich als in einer wundersamen Weise über den Dingen schwebend, dabei von einer nicht anders als naiv zu bezeichnenden Freundlichkeit und Gutmütigkeit. Nichts scheint ihr etwas anhaben zu können, auf alles reagiert sie mit einer merkwürdig enthobenen Gelassenheit und neugierigen Freude. In einem im wahrsten Sinne einschneidenden Kontrast dazu stehen ihre offensichtlich selbst malträtierten Arme, die Narben diverser, auch tiefgehender Schnittverletzungen aufweisen, welche die Patientin nicht verbirgt, sondern mit einer so noch nicht gesehenen Zärtlichkeit ihren eigenen Verwundungen gegenüber in Worten und Taten behandelt (so streicht sie häufig sehr behutsam über diese Narben und spürt vorsichtig tastend mit ihrem Finger den Wunden nach, als vergegenwärtige sie sich mit einer Art von liebender Selbstfürsorge ihre eigene Pein). Die Patientin entfaltet auf mich eine fast soghafte Wirkung. Sie löst ein Nähe- und Schutzbedürfnis aus, das mich nahezu überschwemmt und das mir in dieser Qualität neu ist. Die Gegenübertragungsmechanismen wirken so immens, dass der ganze Raum plötzlich in Wunderland-Stimmung getaucht zu sein scheint und es mich große selbstdistanzierende Anstrengungen kostet nicht raum- und zeitenthoben mit Alice in kindlicher Seligkeit fortzuschweben. Jedoch gelingen mir diese Selbst-Erdungen nicht zu jeder Zeit, so dass es gelegentlich zu Kairos- Momenten – so würde ich diese vollkommen erfüllten Augenblicke benennen – kommt, in denen nicht Alice den Sog auslöst, sondern dieser Sog ganz zu sein scheint. Wir sind dann zwei Seelen zu einer verbunden, und anstatt meiner Therapeutenrolle gerecht zu werden, erlebe ich dann Heilung, vielleicht nicht so, dass ich nun nicht mehr Alice heile, sondern sie mich, sondern vielmehr, dass dieses zwischen uns sich Ereignende als Heilung über uns Beide kommt. Wir tanzen dann zusammen auf der Borderline.

Über Herzfehler, Hörschäden und Tastbefunde: Medizinethik im Werden

Das Anliegen dieses Projektes dreht sich um aktuelle, gesellschaftlich virulente Probleme der Medizinethik. Da unserem Eindruck nach viel argumentiert wird und wenig bewegt, soll hier ein Ansatz geboten werden, der konkret, situativ, kreativ und performativ vorgeht. In einem Ineinander von kreativer Produktion und akademischer Reflexion soll sich Ethik ereignen, durch Kopf und Herz, durch Arm und Bein, durch Lunge und Niere, durch den ganzen Leib. Dies ist ein Projekt für eine Ethik im Werden. Was auch bedeutet, dass wir selbst uns nur langsam vortasten können, in dem, was wir wollen.